Der Zauber des Schreibens

Zauber

Wer einmal, auch nur ein einziges Mal, dem Zauber des Schreibens unterlag oder besser: dem Zauber des Schreibens unterliegen durfte, der wird wohl Zeit seines Lebens ein Liebhaber, ein gefangener Liebhaber, dieses Zaubers sein.

Jemandem, der bislang diesen Zauber nicht kennenlernen durfte, diesen Zauber zu erklären, fällt nicht leicht. Denn dieser arme Mensch wird, sobald wir einen mühsamen und von vornherein aussichtslosen Versuch der Erklärung unternehmen, bestenfalls an das Ergebnis des Schreibens, das Geschriebene denken und vermuten, wir hätten daran unsere Freude, seien darüber glücklich, seien darauf stolz. Besonders den Stolz wird er vermuten: Den Stolz auf ein paar gelungene Wendungen, den Stolz auf ein paar mehr oder minder missglückte Reime: „Haus – Maus“; taaräääh; wie lächerlich!

Das Ergebnis des Schreibens, das Geschriebene, ist doch nur das kümmerliche Abfallprodukt des Schreibens, des heiligen und heilenden Schreibens selbst. Ein Abfallprodukt, an dem andere Erfahrene ehrfurchtsvoll erahnen können, was im Schreiben geschah, was der Schreibende durchlebte. Ein Abfallprodukt andererseits, an dem sich auch Narren und kleine bissige Hündchen laben können. Und wenn ihnen ihr größtes Glück beschert wird, dann finden sie vielleicht einen Komma- oder einen Rechtschreibfehler, durch den sie sich dann selbst als groß, weise und erfahren aufblähen können. Wie wenig haben sie verstanden vom Zauber des Schreibens, vom Zauber des Lebens in all seinen facettenreichen Möglichkeiten!

Schreiben gestaltet das Leben. Schreiben gestaltet und schenkt das, was es im Leben gibt – oder auch nicht gibt. Schreiben kann uns trösten oder zutiefst bedrücken. Schreiben kann uns Wahrheit schenken. Schreiben kann unsere ganze Welt verändern. Und uns selbst auch.

Es gibt für uns nichts auf dieser Welt, das nicht geschrieben wurde. Und es gibt nichts auf dieser Welt, solange es nicht geschrieben wurde. Das gesprochene Wort alleine reicht nicht aus. Es muss der Prüfung des Schreibens unterzogen worden sein, um wahr sein zu können.


Die Persönlichkeit hinter dem Geschriebenen

Die Persönlichkeit hinter dem Geschriebenen

Wenn wir einen Satz, mehrere Sätze, einen Bericht, einen Brief, eine Erzählung etc. schreiben und „zu Papier bringen“, so ist das oft weitaus mehr, als die Umsetzung unserer Gedanken in eine andere, wieder nachvollziehbare Form. Allein dies hätte auch selten die emotionale Intensität, die das Schreiben für manche von uns beinhaltet, hervorrufen können.

Kennen Sie auch Schreib-Blockaden?

Im Schreiben bekennen wir uns zu etwas. Wir bekennen: „So ist es“ oder „So ist es gewesen“. Vielleicht ist es auch nur ein „So könnte es sein“ oder ein „So könnte es gewesen sein“ – und dennoch ist es ein Bekenntnis. Selbst wenn wir alle individuellen Erfahrungsvermögen und eine Freiheit der individuellen Weltsichtweise mit einbeziehen ist es ein Bekenntnis. Oder sogar: Dann ganz besonders und dann erst recht. Wir stehen mit unserer Persönlichkeit hinter dem Niedergeschriebenen.

Wenn wir einen Gedanken zu Papier bringen, bringen wir ihn damit zur Welt. Das ist eine Geburt! Wir gebären einen Gedanken aus den Tiefen unseres Hauptes und konfrontieren ihn mit dem Licht der Welt. Und wir konfrontieren unseren Gedanken, unsere Gedanken, unsere Persönlichkeit mit den bewertenden Blicken der Anderen; es sei denn, wir schreiben in unser abschließbares, stets verschlossenes Tagebuch.

Und selbst dann, wenn wir nur für uns und nur für unser Tagebuch schreiben, fällt das Schreiben bisweilen schwer, bereitet Mühe, beschert Angst. Denn indem wir ein Gedankengebilde, ein Gedankenbild, in einen Satz oder zu Sätzen formen, gießen wir unsere allen – und auch uns selbst – verborgenen Gedanken in die Formen der Logik und des Logos (gr. λογος,  logos) und verleihen ihnen dadurch ein Sein, das die Seinsstufe unserer geheimen krausen Gedanken und Phantasien bei weitem überragt.

Indem wir schreiben, etwas zu Papier bringen, nach außen bringen, zur Welt bringen, gebären wir. Wir sind kreativ. Wir sind Schöpfer, Kreatoren, wir erschaffen Welt. Zumindest erschaffen wir eine in unseren Augen mögliche Welt. Eine Welt zu der wir uns bekennen; unser Gewissen, unsere Ehre ermahnt uns, uns zu dieser Welt wie zum eigenen Kind zu bekennen. Wir stehen für unser Geschriebenes und zur Welt Gebrachtes ein, müssen dafür einstehen. Wenn auch nicht vor Gericht oder vor anderen Menschen, so doch vor der weitaus höheren Warte der eigenen Persönlichkeit.


 

Schreiben / Das Gewitter

Da ist sie wieder, diese Idee,
diese Idee, die nichts weiteres neben ihr zulässt,
die alles andere verdunkelt,
diese Idee, die sich nach vorn drängt und von mir Besitz ergreift.

Dann kommt das Gewitter.

Ideen und Gedanken blitzen auf.
Eine Idee, die nächste Idee, die nächste fordert die nächste heraus, fordert sie auf zu jagen und gejagt zu werden,
stärker zu sein, schneller zu sein, heller zu sein.

Ein Gedanke taucht auf. Der nächste treibt ihn, will ihn verdrängen, bezwingen, verjagen,
will Sieger sein.

Ideen und Gedanken ringen und schlagen aufeinander ein, vernichten sich gegenseitig, wollen als Einzige überleben, die stärksten sein.

Stunden, Tage sind vergangen
in Freude, mit Schmerz.
Jetzt bin ich müde, ich mag nicht mehr,
ich bin erschöpft,
fast alles scheint egal zu sein.

Ich ordne die Trümmer,
höre noch das Grollen des Donners in der Ferne,
höre, dass endlich Ruhe ist in meinem Hirn.
– In meinem Hirn? – mit mir selbst und meinem Willen hat das schon lange nichts mehr zu tun!

Ich schreibe, um zu retten, was noch zu retten ist.

Ich schreibe,
das Grollen verhallt, es herrschen wieder Ruhe und Frieden.

Jetzt, nach dem Gewitter ist die Luft klar und rein,
im Garten ist es kühl.
Ich atme tief ein und atme tief aus, spüre die feuchte Luft
und staune über dieses seltsame Leben.

 

Michael Gutmann
Berlin