Ich weiß, dass ich nichts weiß!

Ich weiß, dass ich nichts weiß!

„Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ Das ist der Satz, für den der Philosoph Sokrates heute berühmt ist. Sicherlich auf Grund des Paradoxons, da man doch von Sokrates, als Philosophen, erwarten dürfte, dass er doch ganz gewiss eine ganze Menge Wissen besitzt.

Doch Sokrates vertritt, er besäße kein Wissen. – Vertritt er das wirklich? Wie kommt es zu dieser Aussage, zu dieser berühmten Überlieferung.

Ich weiß, dass ich nichts weiß – Die Entstehung dieses Satzes

Warnung!!! Der folgende, sehr lange Text ist nur für Sie geschrieben, wenn Sie näher an der Entstehung des Satzes „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ interessiert sind. (Ansonsten empfehle ich die vorige Seite: „Warum Sokrates?

Um dem Verständnis dieses Satzes: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ gerecht zu werden, bedarf es einer längeren Vorgeschichte:

Die Anklagen gegen Sokrates vor Gericht

Sokrates steht im Alter von 70 Jahren vor Gericht. Nach Platons Überlieferung lautet die Anklage gegen ihn: „Sokrates begeht Unrecht, weil er die Jugend verdirbt und weil er die Götter, die der Staat anerkennt, nicht anerkennt, sondern neuartige daimonische Wesen“ (Ap.24b8).

Dies mag die offizielle Formulierung des Vorwurfs gewesen sein. Aber im Grunde muss sich Sokrates gegen einen schlechten Ruf, der ihm anhängt, ver­teidigen. Ohne es auszusprechen, hält man ihm vor, durch Missachtung der Ge­pflogenheiten Unruhe zu stiften und die bestehenden Athener Sitten zu ge­fährden. Sokrates gilt als Ärgernis, als Skandal. Vor Gericht will Sokrates nun öffentlich erklären, wie es zu diesem schlechten Ansehen gekommen ist. Und er wird zeigen wollen, dass sein Ruf ungerechtfertigt durch Verleumdung entstand.

Sokrates gerichtliche Verteidigung

Sokrates Ruf

Sokrates gilt den meisten seiner Zeitgenossen als Eigenbrötler.

All die Anschuldigungen gegen ihn, die ausgesprochenen wie die unausgespro­chenen, seien unwahr, erklärt Sokrates.

Wenn ihn nun aber jemand fragte, woher denn die Anschuldigungen gegen ihn kämen und woraus ihm sein schlechter Ruf erwachsen sei, was er denn betreibe, – dann müsse er diesem Menschen Rechenschaft ablegen, denn diese Forderung sei gerecht und ihr will er nun hier, vor Gericht, folgen.

Sokrates Verteidigungsrede

Was ihn in Verruf gebracht habe, sei ein bestimmtes Wissen, eine bestimmte Weisheit und Intelligenz <sof…a>, erklärt Sokrates. Diese Weisheit sei die „menschliche Weisheit“, <¢nqrwp…nh sof…a> (Ap.20d7), was, bescheiden interpre­tiert, in dieser Doppeldeutigkeit bedeutet, dass diese Weisheit sowohl ein Wissen vom Menschen als auch ein Wissen, das sich seiner menschlichen Beschränktheit bewusst ist, beinhaltet. Dieses Wissen und diese Weisheit von menschlichem Maß billigt Sokrates sich zu.

Als Zeugen für seine Weisheit stellt Sokrates Apollon, den Gott des Orakels zu Delphi. Und er erzählt seinen Richtern die folgende Geschichte: Chairephon, ein Freund und Schüler des Sokrates, fragte einst das Orakel zu Delphi, ob jemand weiser sei als Sokrates, worauf das Orakel geantwortet habe: „Keiner ist weiser als Sokrates“ (Ap.21a8).

Die Antwort brachte Sokrates in Not: einerseits war er sich sicher, überhaupt nicht weise zu sein, – andererseits konnte er auch nicht annehmen, das göttliche Orakel lüge oder täusche sich.

»Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? Denn das [dessen] bin ich mir doch bewusst, dass ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung, ich sei der Weiseste« (Ap.21b3)?

Diese Frage konnte Sokrates keine Ruhe lassen.

»Und lange Zeit konnte ich nicht begreifen, was er meinte; endlich wendete ich mich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art. Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Spruch zu zeigen: Dieser ist doch wohl weiser als ich, du aber hast auf mich ausgesagt« (Ap.21b8).

Konflikt und Untersuchung

Sokrates befindet sich im Konflikt; sein Selbstverständnis ist in Frage gestellt. Er kann nur, wie der Gott es behauptet, entweder weise sein, oder aber er ist nicht weise, wie er es doch selbst von sich glaubt. Gleichzeitig weise und nicht weise zu sein ist nicht möglich. Folglich irrt entweder Sokrates in seiner Meinung über sich selbst, oder aber der Gott täuscht sich und alle anderen, aber das sei nicht seine Art (Ap.21b8).

Sokrates nahm schließlich den Orakelspruch als Herausforderung an und be­schloss, durch eine empirische Prüfung die Situation zu klären. Zwei Sätze stan­den zur Untersuchung an: erstens Sokrates’ Selbsteinschätzung: „Ich bin nicht weise“ und zweitens der Orakelspruch: „Keiner ist weiser als Sokrates“.

Der erste Satz: „Sokrates ist nicht weise“ bezieht sich auf das Absolutum „Weisheit“. Der Satz entzieht sich jeder Untersuchung, solange unklar ist, was un­ter Weisheit zu verstehen ist und damit das Maß, wann ein Mensch als weise gel­ten kann, unbestimmt ist. Der zweite Satz: „Keiner ist weiser als Sokrates“ stellt eine Relation dar. Das Maß ist benannt: die Weisheit des Sokrates. Sie ist das Vergleichsmaß für die Weisheit der anderen. Freilich hilft auch dieser Satz nicht weiter, solange noch unklar ist, was man unter Weisheit zu verstehen hat. Aber mit einem alltäglichen Vorverständnis von Weisheit lässt dieser Satz doch wenigstens den Beginn einer empirischen Prüfung zu. Diesen Weg schlägt Sokrates ein.

Die Bestätigung des Satzes: „Keiner ist weiser als Sokrates“ ist kaum durch­führbar: Alle Menschen Athens müssten auf ihre Weisheit hin geprüft werden. Zur Widerlegung des Satzes aber genügt es, einen einzigen Menschen zu finden, der deutlich weiser ist als Sokrates. Dann würde sich zeigen: Das Orakel hat unwahr gesprochen.

In diesem Vorgehen, das, wie Sokrates dies beschreibt, aus der Not heraus ge­boren wurde, zeichnet sich bereits die sokratische Systematik ab: Die sokratische Überprüfung eines Satzes erfolgt nicht durch den Versuch der Bestätigung (Verifi­kation), sondern durch die gezielte Suche nach dessen Widerlegung (Falsifikation).

Die Prüfung des Satzes, Sokrates sei der Weiseste

Bei den Politikern

So ging Sokrates zu einem Athener Staatsmann, der von der Öffentlichkeit für weise gehalten wurde und der sich auch selbst für sehr weise hielt. Im Gespräch mit diesem Mann musste Sokrates jedoch den Eindruck gewinnen, dass dieser Politiker keineswegs weise war. So dachte Sokrates bei sich:

»ToÚtou mšn toà ¢nqrèpou ™gë sofèterÒj e„mi; kinduneÚei mšn g¦r ¹mîn oÙdšteroj oÙdšn kalÒn k¢gaqÕn e„dšnai; ¢ll’ oátoj mšn oŠeta… ti e„dšnai oÙk e„dèj; ™gë dš, ésper oân oÙk o„da, oÙdš o‡omai« (Ap.21d2).

»Als dieser Mann bin ich freilich weiser. Denn es scheint von uns beiden zwar keiner etwas wirklich Gutes und Schönes zu wissen; dieser aber glaubt diesbezüglich etwas zu wissen, obwohl er nichts davon weiß. Ich aber, da ich tatsächlich nichts von diesen Dingen weiß, glaube ich auch, nichts da­von zu wissen. Folglich scheine ich also um diese Kleinigkeit weiser zu sein, nämlich gerade da­durch, dass ich das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube« (Ap.21d2, eigene Über­setzung).

Sokrates versuchte nun diesem Politiker zu zeigen, dass er sich nur für weise halte, in Wahrheit aber keinesfalls weise sei. Das brachte ihm die Feindschaft die­ses Mannes und der ihm befreundeten Menschen ein (Ap.21e1).

Offen bleibt vorerst die Frage, auf welche Weise es Sokrates denn möglich ge­wesen sein sollte, die Weisheit dieses angesehenen Mannes zu prüfen und so zu einem Urteil über diesen Mann zu gelangen. Und was hat Weisheit mit Wissen zu tun?

Folgend ging Sokrates zu einem anderen, für noch weiser gehaltenen Staats­mann. Doch die erste Erfahrung wiederholte sich und Sokrates wurde auch diesem Politiker und dessen anwesenden Freunden verhasst. Planmäßig ging Sokrates nun von einem Politiker zum nächsten, aber überall kam er zu dem gleichen Er­gebnis. Betrübt und mit Sorge musste er feststellen, dass er sich überall nur ver­hasst machte (Ap.21e3). Im weiteren Verlauf seiner Suche musste er erkennen, dass ausgerechnet die Männer mit dem höchsten Ansehen sich als besonders tö­richt erwiesen:

»Und beim Hunde, ihr Athener, – denn ich muss die Wahrheit zu euch reden – wahrlich, es erging mir so. Die Berühmtesten dünkten mich beinahe die Armseligsten zu sein, wenn ich es dem Gott zufolge untersuchte, andere minder Geachtete aber noch eher für vernünftig gelten zu können« (Ap.22a1).

Bei den Dichtern

Nach diesen Enttäuschungen ging Sokrates zu den Dichtern, befragte sie zu den Aussagen ihrer Werke und musste mit Erstaunen feststellen, dass nahezu alle anderen mehr und Sinnvolleres bezüglich derer Werke erklären konnten, als die Verfasser selbst. Denn diese sagten zwar, wie „Wahrsager und Orakelsänger“ in ihren Werken viel Schönes, offenbar jedoch ohne überhaupt zu wissen, was sie da sagen (Ap.22c3). So musste Sokrates binnen kurzem feststellen, dass die Dichter nicht aus Weisheit hervorbrachten, was sie hervorbrachten, sondern offenbar auf­grund einer besonderen Veranlagung oder göttlichen Begeisterung. »Und zugleich merkte ich, dass sie glaubten, um ihrer Dichtung willen auch in allem übrigen sehr weise Männer zu sein, worin sie es nicht waren« (Ap.22c5). Mit dem gleichen Er­gebnis wie bei den Politikern, nämlich dass er um so viel weiser sei als sie, als er wenigstens nicht zu wissen glaubt, was er nicht weiß, während sie „Schönes und Gutes“ zu wissen glauben ohne tatsächlich zu wissen, verließ Sokrates auch die Dichter.

Bei den Handwerkern

Schließlich ging er zu den Handwerkern, um auch bei ihnen nach Weisheit zu suchen. Aufgrund ihrer Werke konnte er sich doch sicher sein, bei ihnen mancher­lei Wissen zu finden. Und er fand dieses Wissen und sie wussten vieles, was er nicht wusste. Doch Sokrates musste bei ihnen auf dieselbe Torheit wie bei den Dichtern stoßen: Weil sie eine Kunst gründlich erlernt hatten, glaubten sie nun auch in allen anderen wichtigen Dingen kundig zu sein. Diese Selbstüberschätzung stellte ihr ganzes schönes fachliches Wissen in den Schatten, so dass Sokrates wieder zu dem gleichen Ergebnis kommen musste wie schon zuvor: dass er eben um so viel weiser ist als die Befragten, als er wenigstens nicht zu wissen glaubt, was er nicht weiß, – während sie zu wissen glauben ohne tatsächlich zu wissen (Ap22c9).

Abschließend befragte sich Sokrates im Namen des Orakels auch selbst, wie er denn lieber sein wolle: Einerseits zwar manches wissend, dafür aber andererseits mit der Torheit der Selbstverkennung und Selbstüberschätzung beladen, – oder gänzlich unwissend, wie er sich selbst erachtete. »Da antwortete ich denn mir selbst und dem Orakel, es wäre mir besser so zu sein wie ich war« (Ap.22e4).

Das Ergebnis der Prüfungen

Sokrates suchte Weisheit, aber er konnte keine Weisheit finden. Und am wenigs­ten Weisheit fand er bei den als weise Erachteten. Trotz aller Suche konnte Sokrates den Satz des Orakels nicht widerlegen. Glauben konnte er aber auch nicht, dass keiner weiser sein sollte als er selbst. Vorerst konnte Sokrates nur weitersuchen. Schließlich musste er einsehen: Widerlegen kann ich den Satz nicht: „Keiner ist weiser als Sokrates“. Von allen Athenern, die als weise gelten, ist tat­sächlich keiner weiser als ich es bin.

Der Orakelspruch blieb unwiderlegt und gleichzeitig war Sokrates sich doch sicher, bestimmt nicht weise zu sein und nichts Großartiges <kalÒj k¢gaqÕj> zu wissen. Durch die Prüfungen gelangte Sokrates aber zu einer neuen Einsicht: Er war nicht weiser als seine Gesprächspartner, weil er etwa mehr wusste als sie. Nein! Er war weiser als sie, weil er sich nicht einbildete, etwas zu wissen, was er doch nicht wusste. Denn dieses war der Fehler der Befragten und dieser Fehler machte die scheinbar weisen Männer zu ahnungslosen Toren.

Ich weiß, dass ich nichts weiß!

Weisheit im sokratischen Sinn besteht nicht in der Menge eines Wissens, son­dern im Grad der Selbsterkenntnis, ob das vermeintliche Wissen auch wirkliches Wissen, oder nur Glauben oder Scheinwissen und Irrtum ist. In diesem Verständnis von Weisheit, dass weise der ist, der nicht zu wissen glaubt, was er nicht weiß, löst sich der vermeintliche Widerspruch zwischen der „Weisheit“ und dem „Nicht­wissen“ des Sokrates auf. Sokrates ist insofern weise, als er von sich weiß, dass er kein „großartiges <kalÒj k¢gaqÕnj> Wissen“ besitzt.

Für Sokrates war das Rätsel des Orakels damit gelöst. Für die Philosophie­geschichte aber hatte das Rätseln um die Frage der Weisheit damit erst be­gonnen. Denn, wie Sokrates nur durch einen mühsamen Weg der Erkenntnis und Selbsterkenntnis das Rätsel lösen konnte, kann auch jeder Einzelne nur durch den langen und mühsamen Weg eigenen Fragens und Prüfens Einsicht in das Wesen der Weisheit gewinnen. Diese Einsicht ist nicht mitteilbar, weder mündlich noch schriftlich. Sie muss selbst erarbeitet werden.

Deutung des Orakels und Auftrag

Sokrates versteht den Orakelspruch und dessen Deutung als eine ihm von einem weisen Gott gesandte Botschaft, dass nämlich das als großartig erachtete menschliche Wissen „sehr weniges nur wert sei oder gar nichts“. Als weise könne nur der gelten, der dies, wie Sokrates, eingesehen habe (Ap.23a4). Diese Einsicht begreift Sokrates als göttliche Mitteilung an ihn und durch ihn an alle anderen Menschen. Daraus folgt seine Lebensführung, sein philosophisches und pädagogi­sches Handeln:

»So gehe ich denn auch jetzt noch umher und stelle im Auftrage des Gottes Untersuchungen an, sooft ich von einem Einheimischen oder Fremden annehme, er sei weise. Und wenn er’s mir nicht zu sein scheint, dann zeige ich ihm als Gehilfe des Gottes, dass er nicht weise ist.« (Ap.23b3)

Wenn Sokrates „umhergeht“, um nach Weisheit zu suchen, dann sucht er nicht Menschen, die viel wissen, sondern Menschen, die sich ihres eigenen Wissens und Nicht-Wissens bewusst sind. Wer in Ermangelung dieses Bewusstseins meint, weise zu sein, in Wirklichkeit aber nicht weise ist, unterliegt der Selbstverkennung, der Selbstüberschätzung, dem Irrtum über sein eigenes Denken und sich selbst. Er ist ein Tor, der in eigenen und öffentlichen Angelegenheiten aufgrund seiner man­gelnden Selbsterkenntnis jederzeit Schaden anrichten kann. Diesen Schaden ab­zuwenden, auf die Selbstverkennung hinzuweisen, ist das Werk des Gottes, in dessen Auftrag Sokrates sich gestellt sieht.

Das „Umhergehen“, um nach Weisheit zu suchen und nur vermeintliches Wis­sen als Nichtwissen zu erkennen, ist keine Grille des Sokrates, sondern notwendig, nicht nur um vor Schaden zu bewahren, sondern vor allem, um den eigenen Weg der Wissenssuche zu gehen, um eigenes und fremdes „Wissen“ prüfen zu können. Dem Gesprächspartner kann dies zudem helfen, die eigene Suche nach Wissen und Weisheit zu eröffnen. Denn die Erkenntnis des eigenen Wissens und Nicht-Wissens ist die Voraussetzung für jedes vernunftgeleitete Suchen und Lernen.


Das Nichtwissen des Sokrates

Dieser Text ist ein Auszug meiner Doktorarbeit zum Dr.phil. an der Freien Universität Berlin. Der Titel ist: „Die dialogische Pädagogik des Sokrates – Ein Weg zu Wissen, Weisheit und Selbsterkenntnis“. Veröffentlicht wurde sie 2003 im Waxmann-Verlag. Zur Zeit ist sie wohl aber nicht verfügbar.

Wenn Sie Interesse an meiner Doktorarbeit haben, schicken Sie mir einfach eine E-Mail. Dann kann ich Ihnen ein PDF-Exemplar zusenden. Einige Print-Exemplare habe ich auch noch.


Ich weiß, dass ich nichts weiß!
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